Lesezeichen
Diversity und Pflege

Alt und queer: Warum Pflege vielfältiger werden muss

Die Diagnose Demenz ist für viele Menschen oft ein Schock und geht im weiteren Verlauf mit Pflegebedürftigkeit einher. Viele werden lange Zeit von der Familie betreut, für einige bedeutet die Diagnose aber auch den Schritt in eine Pflegeeinrichtung. Warum das eine Herausforderung sein kann, lest ihr im Text. 

H.-J. lebte viele Jahre mit einem Mann zusammen. Sie waren ein Liebespaar. H.-J. arbeitete als Metzger, sein Partner als Hausmeister. Nur ihr Vermieter wusste Bescheid. Ein verstecktes Leben, eine versteckte Liebe. Als der Lebensgefährte, der sich immer um H.-J. und seine voranschreitende Demenz gekümmert hatte, plötzlich stirbt, ist die Angst groß: Wo kann er jetzt hin? 

Voller Zuneigung spricht Dieter Schmidt über ihn und die weiteren Bewohner der Pflege-WG des „Lebensorts Vielfalt“ in Berlin-Charlottenburg. Dieter ist Diplom Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut und Schauspieler – so steht es auf seiner Visitenkarte. Und er arbeitet in der Berliner Schwulenberatung, die mit dem „Lebensort Vielfalt“ ein europaweit einzigartiges Projekt ins Leben gerufen hat. Und zwar nicht nur einen Ort, an dem sich homosexuelle Menschen treffen und austauschen können, sondern auch einen Ort, der insbesondere älteren schwulen Menschen zu mehr Sichtbarkeit verhilft und sie in ihrer  besonderen Lebenssituation unterstützt. 

„Wir sind kein Altenheim, sondern ein Mehrgenerationenhaus“, erklärt mir Dieter Schmidt, als ich ihn im Lebensort Vielfalt besuche. Im oberen Bereich des Hauses ist die Pflege-WG untergebracht, in ihr wohnen acht Männer mit Pflegebedarf, teils mit demenziellen Veränderungen. In den anderen Bereichen des Hauses leben weitere Menschen aus der LGBTQ*Community. Es gibt Begegnungsstätten, kulturelle und soziale Angebote, eine Theatergruppe, eine Bibliothek. Hier leben heißt Gemeinschaft, Unterstützung, Haltung. 

Hier sieht nichts nach Altenheim aus!

An einem sonnigen Morgen im September darf ich einen Fuß in die besondere WG setzen. Ich bin zum Frühstück eingeladen. Für einige Zeit will ich hier den Altersdurchschnitt senken und mich umsehen. Schon nach wenigen Schritten in die Wohnung hinein wird klar: Das hier ist kein gewöhnliches Altenheim. Vielmehr fühle ich mich in meine Studienzeit, ja meine Studentinnen-WG zurückversetzt. Im apfelgrün gestrichenen Aufenthaltsraum stehen bequeme Sofas, im Fenster weht eine große Regenbogenflagge, D., einer der Bewohner, sitzt im Ohrensessel und schaut fern. Einen Raum weiter befindet sich eine Wohnküche mit einem großen Esstisch und einer angeschlossenen Dachterrasse. Der Tisch ist schon fürs Frühstück eingedeckt. Dieter und ich setzen uns zu den Bewohnern. Kaffee? Ja, gern. Wie lebt es sich hier in der Pflege-WG? 

DFL Wohnzimmer

Die Räumlichkeiten der Pflege-WG im Lebensort Vielfalt erinnern eher an ein Student:innen-Wohnheim als an ein Pflegeeinrichtung. (Bild: privat)

„Wir haben hier eine 24-Stunden-Betreuung durch einen Pflegedienst. Jeder Bewohner hat sein eigenes Zimmer, in das er sich zurückziehen kann. In den Gemeinschaftsräumen wird zusammen gegessen, geredet, mal ein Film geschaut“, erklärt Dieter. Ab und an gibt es gemeinsame Aktivitäten und die Bewohner können natürlich die Angebote im Haus nutzen. 

Ich erinnere mich an meine Oma, die, um ihre Feinmotorik zu trainieren, immer seidene Tücher bemalen und Körbe flechten musste. Irgendwann standen da 12 oder 13 Körbe. „Solche Angebote haben wir hier nicht“, wehrt Dieter ab, der jahrelang seine demenzkranke Mutter in einer Pflegeeinrichtung besuchte. „Wir wollen hier keine allgemeine Bespaßung, sondern vor allem immer auch nach den Interessen der Bewohner gehen. Wenn man sein Leben lang kein Interesse für Seidenmalerei hatte, dann möchte man das im Alter vielleicht auch nicht. Wir schauen eher, dass wir Sachen anbieten, die die Männer wirklich interessieren. Wir schauen auf den Einzelnen.“ Erst kürzlich hat die WG einen Ausflug zu einer Fotoausstellung gemacht: „Loving“ .Gezeigt wurden Fotographien schwuler Paare aus den Jahren 1850 bis 1950. „Davon waren alle begeistert, insbesondere Bewohner D., der sich sehr für Fotographie interessiert.“ 

Queere Menschen mit Demenz haben besondere Herausforderungen 

Dieser Anspruch, den oder die Einzelne in den Fokus zu nehmen ist es, der viele Menschen – gerade aus der LGBTQ*-Community – zum Lebensort Vielfalt zieht. Es ist die Basis der sogenannten „diversitätssensiblen Pflege“ und ein Grund, warum die Warteliste für einen Platz in dem Haus so lang ist. Derzeit wollen über 400 Menschen einziehen. 36 Plätze gibt es. Alle sind belegt. Der Bedarf nach Pflege auf Augenhöhe ist hoch, insbesondere, da viele Homosexuelle in ihrem Leben Diskriminierungserfahrungen machen mussten und Angst vor Ausgrenzung haben. 

So überrascht es nicht, dass der Wunsch für die Gründung des Lebensorts Vielfalt tatsächlich aus der Community heraus kam. „In Gesprächskreisen kam das Thema immer wieder auf“, erzählt Dieter Schmidt. „Die Männer sagten, wir haben Angst vor dem Alter und wir haben Angst, dass wir pflegebedürftig werden. Schwulenberatung, ihr müsst was tun! Also haben wir angefangen, uns Konzepte zu überlegen und uns auf die Suche nach geeigneten Räumlichkeiten gemacht und nach einer Finanzierung“. Unterstützt wurden sie bei ihrem Vorhaben unter anderem von der Deutschen Fernsehlotterie, die mit 191.000 Euro den Ausbau und die Ausstattung der Pflege-WG finanzierte. In der Zukunft wird es noch ein weiteres Haus in Berlin geben. Um der großen Nachfrage gerecht zu werden, entsteht am Südkreuz ein weiteres Wohnprojekt vornehmlich für ältere Menschen aus der LGBTQ*-Community, aber auch für jüngere Menschen. Hier liegt ein besonderer Fokus auf Begegnungen der Generationen und Kulturen. Auch dort ist eine weitere Pflege-WG geplant. Die Deutsche Fernsehlotterie ist mit 300.000 Euro am Bau beteiligt. 

Mit dem Zweckertrag aus dem Losverkauf fördert die Fernsehlotterie vielfältige soziale Projekte in ganz Deutschland, unter anderem auch solche für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen. Genau wie Dieter und seinen Kolleg:innen von der Schwulenberatung ist es der Soziallotterie wichtig, Menschen mit Demenz mehr Sichtbarkeit zu geben und sie bei der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu unterstützen. 

DFL Dieter Schmidt

Psychologe Dieter Schmidt setzt sich für diversitätssensible Pflege ein. (Bild: privat)

Die Männer in der Pflege-WG in Berlin sind auf unterschiedliche Art und Weise belastet: Neben den demenziellen Veränderungen und anderen Krankheiten wirken bei ihnen die Erlebnisse ihres Lebens nach. Schließlich standen homosexuelle Handlungen lange Zeit unter Strafe – erst 1994 wurde der Paragraph §175, der Homosexualität kriminalisierte und die strafrechtliche Verfolgung homosexueller Männer rechtfertigte, abgeschafft. Diesen Paragraphen gab es bereits sei 1872, in der NS-Zeit wurde er noch einmal verschärft: Etwa 10.000 bis 15.000 Männer wurden in Konzentrationslager deportiert, viele von ihnen ermordet. 

Nach Kriegsende hat es noch viele Jahre gedauert, bis der Paragraph abgeschwächt wurde: Ab 1969 wurden homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen straffrei, bis der Paragraph 1994 dann endlich gestrichen wurde. Homosexualität galt zudem lange als eine Krankheit. Erst 1992 entferne die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Homosexualität aus der Internationalen Krankheitsklassifikation (ICD 10). Transgeschlechtlichkeit gilt sogar heute noch als Krankheit – und wird erst im Jahr 2022 nicht mehr als solche eingestuft, wenn die ICD 11 in Kraft tritt. Viele der Männer, die in der WG wohnen, haben den Großteil ihres Lebens also versteckt gelebt, mussten sich immer wieder verstellen und konnten sich nur einer kleinen Gruppe von Menschen öffnen.

„Diesen Biografien tragen wir hier im Lebensort Vielfalt Rechnung“, erklärt Dieter Schmidt. Und erzählt, wie wichtig die Kriterien Empathie und Einfühlsamkeit waren, als er nach einem geeigneten Pflegedienst für die Kooperation gesucht hat. 60% der Pflegekräfte sind selbst homosexuell. „Es war uns wichtig, dass die Pflegenden auch die Lebenswelt der Bewohner kennen. Einfach damit die Männer wissen, sie können sich hier völlig frei bewegen und äußern und müssen nicht überlegen, was sie sagen oder ob da jetzt eine Postkarte von einem jungen Mann auf dem Tisch steht“. Die Pflege Demenzkranker hat viel mit Vertrauen zu tun, mit Geduld und mit Fürsorge. Die Pflege von Demenzkranken, die noch zusätzlich so traumatisiert sind, die gelernt haben, sich zurückzuziehen, ist eine Herausforderung, die viele weitere Herausforderungen mit sich bringt. Mit dieser Komplexität muss man umgehen können. Und man muss sensibel und empathisch  reagieren. Denn es kann passieren, dass ein demenzerkrankter schwuler Mann, der sich immer versteckt gehalten hat, dies plötzlich vergisst oder gar erst jetzt sein Coming-out hat.

Warum ist ein Safe Space für Schwule im Alter so wichtig?

Während wir am Frühstückstisch sitzen und reden, kommt Bewohner D. näher. Er legt die Hände auf Dieters Schultern und beginnt, ihn zu massieren. Dieter lässt es sich gefallen. Spricht angenehm leise mit dem Bewohner. D. ist dement, fasst Dieters Oberkörper an, lehnt sich an ihn. „Wenn ein Mensch demenzielle Veränderungen hat, verliert er auch die Fähigkeit zur Reflexion. Ihm ist nicht mehr bewusst, was er macht oder in welcher Beziehung wir zueinander stehen. Er weiß aber, dass er menschliche Nähe braucht“, erklärt der Psychologe. In anderen Einrichtungen wäre diese Nähe vielleicht so nicht möglich. Auch im Lebensort Vielfalt gibt es Pflegende, die unterschiedlich damit umgehen. Aber es ist klar, keine Pflegekraft würde den Patienten für das distanzlose Verhalten bloßstellen oder ausgrenzen. 

In anderen Einrichtungen haben seine Patienten auch andere Erfahrungen gemacht, erzählt Dieter. Manchmal waren die Pflegenden unsensibel oder diskriminierend. Manchmal waren es die anderen Bewohner: „Einer unserer Bewohner wurde in einer anderen Einrichtung ausgegrenzt. Ein Heimbewohner setze ihm mit Sprüchen zu wie ‚Na, dich hat der Adolf wohl auch vergessen?!‘ Das Pflegepersonal ist nicht eingeschritten, die Gängelungen nahmen zu, bis er nur noch wegwollte. Bei einem anderen Fall hat sich das Pflegepersonal geweigert, das Zimmer eines 80-Jährigen zu betreten, nachdem man auf seinem Tisch eine Aktfotografie von einem jungen Mann gesehen hatte“. 

Pflegekräfte müssen im Umgang mit diversen Patient:innen geschult werden

Auch die Unwissenheit des Pflegepersonals kann verletzen. Etwa dann, wenn Pflegende zu sehr von den eigenen, meist heteronormativen Erfahrungen ausgehen, wenn sie mit Patient:innen sprechen: „Da wird ein schwuler Mann beim Einzug in ein Pflegeheim etwa nach seiner Frau oder seinen Kindern gefragt. Direkt besteht da ein Rechtfertigungsdruck. Auf der anderen Seite weiß der Lebenspartner nicht, wie er sich vorstellen soll. Ist er der Freund? Der Bruder?“ Gerade weil die Selbstverständlichkeit homosexueller Beziehungen fehlt, wollen es viele im Heim vermeiden, sich zu outen, und ziehen sich zurück. 

DFL Lebensort

Der Lebensort Vielfalt liegt mitten in Berlin-Charlottenburg.(Bild: privat)

 

Um solchen Problemen entgegenzuwirken, bieten Dieter Schmidt und sein Team im Rahmen des Qualitätssiegels „Lebensraum Vielfalt“ auch Trainings an Pflegeschulen, Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, ambulanten Pflegediensten und Hospizen an. Sie wollen für das Thema geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in der Pflege sensibilisieren und der älteren Community mehr Sichtbarkeit geben. Schließlich sind schon heute die Pflegebedürftigen sehr divers und sie werden in der Zukunft nur noch diverser werden. Gut geschultes Personal kann ihnen das Leben leichter machen und ihnen zeigen, dass sie – egal welche Lebenserfahrungen sie gemacht haben – ganz selbstverständlich gesehen und mit Respekt behandelt werden. 

Bis es soweit ist, wird es wohl noch viele Schulungen brauchen. Aber ein Anfang ist gemacht. Die Workshops, die Dieter und seine Kolleg:innen mittlerweile schon deutschlandweit durchführen, haben Erfolg und öffnen so Manchem die Augen: „Es ist wirklich schön zu erleben, dass die Menschen, die da sind, anders rausgehen, als sie reinkommen. Viele haben dann etwas verstanden und nehme es in die Praxis mit.“ So wird eines Tages der Traum von der diskriminierungsfreien Pflege vielleicht doch noch wahr.

Wichtig ist Dieter auch, dass von der diversitätssensiblen Pflege nicht nur die Menschen aus der LGBTQ*-Community profitieren, sondern alle: „Ganz generell ist es in der Pflege wichtig, den individuellen Menschen zu sehen und das, was ihn oder sie in ihrem Leben geprägt hat, was ihm oder ihr wichtig ist“. Dabei schließt er die demenzkranke Frau, die im Krieg ausgebombt wurde und bei Gewitter in den Keller flüchten will genauso ein wie Personen, die Migrationsgeschichten haben, eine Geschlechtsangleichung vorgenommen haben oder einfach nur ohne große Brüche alt geworden sind. Es geht um die Bedürfnisse, Wünsche und Ängste des oder der Einzelnen. Und die hat jede:r ganz individuell. Am Ende geht es um Respekt. 

Die Deutsche Fernsehlotterie fördert nicht nur Projekte wie Lebensort Vielfalt, sondern engagiert sich auch als Akteur der nationalen Demenzstrategie für Menschen mit Demenz und ihre Angehörige. Im Rahmen der bundesweiten Aktionswoche „Woche der Demenz“ rund um den Weltalzheimertag am 21.9. stellt sie aktuell verschiedene, von ihr geförderte Demenz-Projekte in ihrem Magazin „Du bist ein Gewinn“ vor.


 

Artikel teilen

Merkliste

Hier können Sie interessante Artikel speichern, um sie später zu lesen und wiederzufinden.